Nelli Hergenröther ist Geschäftsführerin von Evenly, einer Software-Agentur für mobile Apps, Smart TV, Wearables und Voice in Berlin-Kreuzberg. Nach einem Wechsel aus der digitalen Kommunikation baute sie sich in verschiedenen Unternehmen einen Hintergrund in Projekt- und Produktmanagement auf und kam dabei mit unterschiedlichsten Firmen- und Führungskulturen von Bank über Agentur bis Startup in Berührung. Als zwischen Moldawien und Deutschland aufgewachsenes Kind russlanddeutscher Einwanderer war Inklusion schon immer ein wichtiger Antrieb für sie und hat immer noch höchste Priorität – sei es bei der Teamzusammensetzung oder bei produktbezogenen Entscheidungen. Denn nur Diversität schafft Produkte, die für eine große Nutzergruppe relevant sind.
Nelli, auf deinem Arm trägst du den Schriftzug "Ownlife". Was hat es damit auf sich?
Das ist ein Zitat aus George Orwells "1984": "Im Prinzip hatte ein Parteimitglied keine Freizeit und war nur im Bett allein. Man erwartete von ihm, daß es sich, wenn es nicht gerade arbeitete, aß oder schlief, an irgendeiner Gemeinschaftsvergnügung beteiligte. Irgendetwas zu tun, das auf einen Hang zur Einsamkeit schließen ließ - bereits alleine spazierenzugehen - konnte gefährlich sein. In Neusprech gab es ein Wort dafür, es hieß: "Egosein" (im Original das, wie ich finde, schönere "ownlife") und bedeutete soviel wie "Individualismus und Exzentrizität".
Ich bin in der ehemaligen Sowjetunion geboren, wo es meiner Familie nicht so gut ergangen ist. Deswegen ist "1984" ein sehr wichtiges Buch für mich. Aber auch, weil ich bei der Arbeit zwar sehr
viel Wert auf Teamfähigkeit lege, in meiner Freizeit aber schon immer recht einzelgängerisch war. Eine meiner liebsten Beschäftigungen ist tatsächlich alleine spazieren zu gehen (mit einem
Podcast).
Du betonst, dass dir Teamfähgikeit wichtig ist. Wie stellst Du Dein Team zusammen? Wonach suchst Du in neuen Mitarbeitenden?
Mir sind vor allem Selbstständigkeit und der Wunsch, sich zu verbessern, sehr wichtig. Vieles davon merkt man schon im Vorstellungsgespräch, also zum Beispiel daran, ob die Kandidat:innen begeistert von einer neuen Technologie erzählen, die sie ausprobiert haben oder ausprobieren wollen. Ansonsten stellen wir den Kandidat:innen technische Challenges und an deren Umsetzung erkennt man meistens sehr viel. Wir hatten Bewerber:innen, die eine ordentliche Challenge abgegeben haben, aber wo man merkte, dass sie sich viel an ähnlichen Beispielen orientiert und nicht selbst nachgedacht und ausprobiert haben. Wir würden jederzeit Leute vorziehen, die vielleicht noch nicht so viel Erfahrung haben, aber bei denen man merkt, dass sie interessiert und motiviert sind und bei denen die Lernkurve viel steiler sein wird.
"Wir würden jederzeit Leute vorziehen, die vielleicht noch nicht so viel Erfahrung haben, aber bei denen man merkt, dass sie interessiert und motiviert sind und bei denen die Lernkurve viel steiler sein wird."
Teamfähigkeit ist uns auch extrem wichtig. Das ist ein Schlagwort, von dem alle denken, dass es auf sie zutrifft, in der Realität ist das aber viel seltener anzutreffen. Dazu gehört ein
konstruktiver Umgang mit Fehlern anderer, egal auf welchem Erfahrungslevel sie sich befinden. Außerdem Respekt für alle Teammitglieder verschiedener Disziplinen, ob Projektmanager:innen,
Designer:innen oder Entwickler:innen. Leider ist die Techszene sehr entwicklerfokussiert, so dass oft vergessen wird, dass ein Software-Produkt nicht nur von Code lebt, sondern sehr viele
verschiedene Gewerke erfordert.
Soft Skills zu testen ist nicht einfach, aber Teil unseres Bewerbungsprozesses ist ein technisches Interview, das direkt nach der Challenge kommt. In diesem Interview besprechen Bewerber:innen
ihre Coding Challenge mit jemandem aus unserem Team und suchen danach Bugs im Code, den wir zur Verfügung stellen. Dabei merkt man schnell, ob die Bewerber:innen mit unseren Leuten
zusammenarbeiten und auch Feedback annehmen, oder eher defensiv werden und für sich alleine arbeiten. Zweiteres ist definitiv ein schlechtes Zeichen.
Wie Stellst Du als Führungskraft sicher, dass Deine Mitarbeitenden autonom arbeiten und dabei Höchstleistung bringen?
Unser Grundsatz bei Evenly lautet: So viel Freiheit wie möglich, so wenige Einschränkungen wie nötig. So ein Führungsstil ist natürlich nicht für alle geeignet. Man merkt zum Beispiel sofort, wenn neue Mitarbeiter:innen aus eher hierarchischen Organisationen kommen oder mal Freelancer waren. Wir erwarten viel Eigenverantwortung von unseren Mitarbeiter:innen und das machen wir schon in Vorstellungsgesprächen klar beziehungsweise stellen Challenges, die auf selbstständige Problemlösung ausgerichtet sind. Bisher hat das gut funktioniert und wir hatten bei niemandem das Gefühl, dass auf einer Seite falsche Vorstellungen entstanden sind.
Natürlich haben wir dennoch Regeln, das ist nötig, um im Team funktionieren zu können. Aber wir begründen diese immer und setzen auf Konsensfähigkeit statt auf starre Strukturen. Sobald der Sinn
hinter den Regeln verstanden ist, wird die Durchsetzung viel einfacher. Beispielsweise arbeiten wir seit Mitte März, als die Corona-Maßnahmen angefangen haben, in Kraft zu treten, alle aus dem
Homeoffice (inzwischen, nachdem die Situation sich etwas beruhigt hat, haben wir allen freigestellt, ob/wann sie von Zuhause aus oder aus dem Büro arbeiten wollen). Am Anfang der Homeoffice-Zeit
haben wir Kernarbeitszeiten eingeführt, was wir vorher nicht wirklich hatten. In dieser Situation wurde es aber nötig, zumindest zu versuchen, einen Zeitraum zu schaffen, wo sich alle
Teammitglieder eines Projekts absprechen können. Dennoch bleiben wir flexibel, vor allem bei Eltern mit kleinen Kindern, die auch in der Kernarbeitszeit nicht ständig am Computer sind, aber dafür
über ihren Status in Slack, unserem Hauptkommunikationsmittel, angeben können, ob sie ansprechbar sind oder nicht.
Unsere Mitarbeiter:innen haben bei der App-Entwicklung viel Einfluss auf das Produkt, wir lassen die Teams selbstständig daran arbeiten und würden ihnen nie ohne sehr wichtigen Grund in eine Entscheidung reinreden. Ich selbst habe früher leider die Erfahrung mit einem Chef machen müssen, der viel von der Arbeit des Teams bestimmt hat. Am Ende wurden Deadlines nicht eingehalten, weil Projekte nach seinen Vorgaben in letzter Minute umgearbeitet werden mussten, und das Team konnte sich nicht mit dem Ergebnis identifizieren. Diesen Fehler möchte ich nicht wiederholen. Bei uns sehen die Teammitglieder das Ergebnis ihrer Entscheidungen direkt im Produkt – und das spornt an.
"Ein Produkt (und die dazugehörigen Bugs) gehören immer dem Team gemeinsam, nicht dem:der Einzelnen."
Extrem wichtig finde ich auch einen konstruktiven Umgang mit Fehlern. Fehler passieren, niemand sollte aus Angst davor etwas nicht tun. Gerade bei Softwareentwicklung, wo sich in kürzester Zeit viel verändert und wo viele neue Technologien auftauchen, passieren viele Fehler. Aber es wäre fatal, wenn jemand aus Angst vor Fehlern nur auf altbewährte Technologien setzen würde. Deswegen legen wir viel Wert darauf, konstruktiv mit Bugs umzugehen – wir korrigieren sie, aber keiner muss sich dafür schämen. Ein Produkt (und die dazugehörigen Bugs) gehören immer dem Team gemeinsam, nicht dem:der Einzelnen.
Welche Empfehlung in Bezug auf Führung möchtest Du in das Lehrbuch jeder Nachwuchs-Führungskraft schreiben?
Für mich bestand die stärkste Veränderung nach dem Wechsel in die Geschäftsführung von Evenly in der Feedbackkultur. Ich war auch vorher schon in Führungspositionen, beispielsweise als Teamlead, tätig, hatte aber immer weitere Vorgesetzte über mir, die meine Arbeit bewertet und mir Feedback gegeben haben. Nun hatte ich plötzlich keine Vorgesetzten über mir, sondern nur einen weiteren Geschäftsführer und Firmeninhaber mit ungefähr dem gleichen Erfahrungsschatz wie ich selbst. Und hatte ich früher Kollegen, die mir relativ frei Feedback gegeben haben, hatte ich nun plötzlich Mitarbeiter, für die ich verantwortlich war.
Deswegen würde ich jeder Führungskraft empfehlen, sich auf diese Veränderung in der Feedback- und Kommunikationskultur einzustellen und sich im Vorfeld Strategien zurecht zu legen, um damit umzugehen. Das sollte zum einen sehr aktives Einfordern von Feedback sein, wobei man immer wieder klar machen muss, dass auch negatives Feedback willkommen ist. Was für mich ebenfalls gut funktioniert hat: sich eine Vertrauensperson im Unternehmen suchen, die einem ehrliches Feedback geben kann. Das sollte am besten jemand mit genug Erfahrung und Standing sein, um auch unangenehme Themen anzusprechen.
"Zum anderen ist man als Vorgesetzte:r immer ein bisschen wie Infrastruktur – wenn alles funktioniert, beachtet man sie nicht, aber wenn etwas schief läuft beschweren sich alle. Das heißt auch positives Feedback kann spärlich ausfallen."
Zum anderen ist man als Vorgesetzte:r immer ein bisschen wie Infrastruktur – wenn alles funktioniert, beachtet man sie nicht, aber wenn etwas schief läuft beschweren sich alle. Das heißt auch
positives Feedback kann spärlich ausfallen – wer geht schon zur Chefin und klopft ihr auf die Schulter? Hier kann es hilfreich sein, sich eine Peer Group mit Führungskräften in einer ähnlichen
Situation aufzubauen und darin Austausch und auch Bestätigung zu suchen. Mir persönlich bieten Treffen mit anderen Geschäftsführer:innen oder CEOs von Startups oder kleinen Agenturen diesen
Raum.
Grundsätzlich hat man als Führungskraft natürlich auch mehr Möglichkeiten, Feedback und Kommunikation innerhalb des Teams zu fördern.
Ein anderer Rat, der mir am Anfang auf den Weg gegeben wurde, ist, Handlungen und Entscheidungen dem Team gegenüber transparent zu machen. Ich finde nach wie vor, dass das eine gute Empfehlung
ist, würde aber hinzufügen, dass Transparenz nicht bedeutet, allen alle Informationen ungeordnet und ungefiltert zur Verfügung zu stellen. Mein Job als Geschäftsführerin besteht darin,
Informationen zu bewerten und auf Grund meiner Erfahrung und meines Wissens in diesem Bereich Entscheidungen zu treffen – diese Verantwortung kann ich Mitarbeiter:innen nicht aufbürden, die einen
ganz anderen Fokus haben. Man sollte also möglichst transparent sein, aber genau überlegen, wer welche Informationen braucht und wer diese einschätzen kann.
Hast du im Laufe deiner Führungskarriere einmal einen Fehler gemacht, aus dem du viel gelernt hast?
Ich musste einsehen, dass man nicht jede:n überzeugen kann, auch wenn man meint, vernünftige Argumente zu haben. Und manchmal ist eine Diskussion beziehungsweise ein Kompromiss mit Mitarbeiter:innen auch gar nicht angebracht, zum Beispiel wenn es um Firmenwerte und die Firmenstrategie geht.
Wir mussten uns vor einiger Zeit von einem langjährigen Mitarbeiter trennen, der nicht mit der Ausrichtung der Firma einverstanden war, nachdem ich in die Führungsebene dazugekommen bin. Er hatte eine bestimmte Vorstellung von der Ausrichtung der Firma und der Firmenkultur, die der andere Geschäftsführer und ich so nie kommuniziert haben und mit denen wir auch nicht einverstanden waren. Ich habe sehr lange versucht, mit dem Mitarbeiter zu sprechen, ihm die Gründe für unsere Entscheidungen darzulegen und ihn von unserer Sicht zu überzeugen. Das würde ich heute in diesem Umfang nicht mehr so machen. Selbstverständlich würde ich unsere Entscheidungen erklären, aber ich würde das nicht immer und immer wieder versuchen. Die Ausrichtung einer Firma ist so grundlegend, dass es hier keinen Kompromiss geben kann.
"Gerade als Frau ist es ein schmaler Grat zwischen zu wenig und zu viel Autorität und man wird viel genauer beobachtet."
Letztendlich hat mir meine Mühe nicht viel gebracht und wir mussten uns von diesem Mitarbeiter trennen. Am Ende ging es auch nicht nur um Meinungsverschiedenheiten, sondern darum, dass er unsere Autorität einfach nicht anerkennen wollte. Im Nachhinein denke ich, dass mir das hätte früher auffallen müssen.
Zumindest ich hatte früher Angst, als zu autoritär rüberzukommen und habe öfter versucht, meine Entscheidungen zu rechtfertigen. Ein Problem, das ich leider bei vielen Frauen wiedererkenne. Aber
gerade als Chefin werden einen nie alle mögen, was vollkommen in Ordnung ist.
Wenn ich gerade nicht weiß, auf welcher Seite des Grats der Autorität ich mich befinde, habe ich eine Person im Kopf, die quasi eine Zusammensetzung von anderen Führungspersonen ist, deren
Kommunikationsstil ich gut finde. Es handelt sich dabei bewusst um Männer. Dann frage ich mich: Wenn diese Person in dieser Situation das sagen würde, was ich gerade sage – fände ich das okay?
Und meistens ist die Antwort ja. Es gibt ja diverse Studien, die besagen, dass Frauen normalerweise schneller als autoritär empfunden werden, als Männer, das heißt bei mir würde die Grenze früher
anfangen, als bei meinem imaginären Berater, aber ich finde es fair, die gleichen Maßstäbe anzulegen.
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